Hedwig Doebereiner

Hedwig Döbereiner, genannt „Eppich“, hat die Langau gegründet, aufgebaut und fast 60 Jahre lang begleitet. Nun ist sie mit 97 Jahren gestorben.

Von Wolfgang Krach

Es war eine Zeit, in der noch niemand von „Inklusion“ sprach, vom gleichberechtigten und respektvollen Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung. Hedwig Döbereiner, damals Bundesmeisterin des Bundes Christlicher Pfadfinderinnen (BCP), war auf der Suche nach einem Platz für ein großes Zeltlager, das auch für Rollstuhlfahrerinnen zugänglich sein sollte. Denn von denen gab es einige beim BCP. Hedwig Döbereiner fuhr, es war April 1964, durch halb Oberbayern, ehe sie im Pfaffenwinkel, in Steingaden, nahe der weltberühmten Wieskirche, fündig wurde. An einem der schönsten Plätze, der sich in ganz Deutschland finden lässt: der Langau.

Dort, auf dem Gelände der ehemaligen Schwaige des Klosters Steingaden entdeckte Hedwig Döbereiner also den richtigen Ort, nicht nur für ihre Pfadfinderinnen, sondern – was sie damals noch nicht wusste – auch für sich selbst. Den Ort, der zum Mittelpunkt ihres Lebens werden sollte.

Anfang 1965 kaufte der BCP auf Initiative von Hedwig Döbereiner – von allen, die sie kannten, nur „Eppich“ genannt – dem Freistaat Bayern die Langau ab. Aus dem einstigen landwirtschaftlichen Gehöft wollte sie eine Bildungs- und Erholungsstätte machen, in der sich auch Menschen im Rollstuhl barrierefrei bewegen können. Es sollte ein in jeder Hinsicht offenes Haus werden. Nicht nur von der Architektur her, sondern auch von der Haltung her, die die Pfadfinderinnen jedem und jeder entgegenbrachten.

Diese Offenheit hatte Hedwig Döbereiner in ihrer Familie selbst erlebt. Geboren im Mai 1924, ein halbes Jahr nach dem Hitler-Putsch, wuchs sie in Nürnberg mit zwei jüngeren Geschwistern auf. Ihr Vater, Musikpädagoge und Studiendirektor für Musik an Höheren Schulen, war stets offen für Neues. Er gründete den Nürnberger Madrigalchor, ein Kammerorchester, einen Knabenchor. Die Mutter, ausgebildete Sängerin, organisierte die Konzertreisen. Eppich spielte Klavier, Orgel und Flöte; zudem war sie eine hervorragende Sängerin. Eine weltoffenen Familie.

Schon bald freilich verdüsterte der Nationalsozialismus den Alltag. Nach Hitlers Machtergreifung 1933 wurde Eppich, wie fast alle Mädchen, erst Mitglied im Jungmädelbund der Hitlerjugend und dann im Bund Deutscher Mädel (BDM). Mitten im Zweiten Weltkrieg legte sie 1942 ihr Abitur ab und wurde einberufen zum sechsmonatigen Reichsarbeitsdienst (RAD), der seit Kriegsbeginn für alle Frauen zwischen 17 und 25 Jahren verpflichtend war. Anschließend musste sie in den Kriegshilfsdienst, als Zugführerin im so genannten Scheinwerfereinsatz.

Doch parallel zu diesem nach außen hin sichtbaren Leben im Pflichtdienst der Nationalsozialisten führte Eppich ein Leben im Untergrund, von dem niemand etwas wissen durfte, auch die eigenen Eltern und Freunde nicht. Die Unerschrockenheit, der Wagemut und die Geradlinigkeit, die auch ihr späteres Leben bestimmen sollten, ließen sie in der Osternacht 1942 in Castell im fränkischen Steigerwald über eine Mauer in den Friedhof der dortigen Fürstenfamilie klettern. Sieben Pfadfinderinnen, unter ihnen die 17-jährige Eppich als jüngste, versammelten sich um ein großes steinernes Kreuz und bildeten einen Ring, den „Casteller Ring“, aus dem acht Jahre später eine Schwesterngemeinschaft werden sollte. Jede von ihnen gelobte „meinem Herren Jesus Christus Treue“ und zugleich „Schweigen gegen jedermann“. Dazu hatten sie allen Grund. Die Pfadfinderinnen waren seit 1937 von der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) verboten; mit dem Casteller Ring setzten sie ihre Freiheit, wenn nicht gar ihr Leben, aufs Spiel.

Ehrgeizig und wissbegierig wie sie war, wollte Eppich nach Ende des Krieges Medizin studieren. Doch das klappte nicht, und so begann sie eine Ausbildung zur Jugendleiterin. Sie ging für einige Jahre in eine Kirchengemeine nach Bamberg und trat 1951 der neu gegründeten Communität Casteller Ring bei, deren Grundstein sie ja neun Jahre zuvor selbst mit gelegt hatte. Dass sie ihr Leben lang eine benediktinisch angehauchte evangelische Frömmigkeit pflegte – mit einem Faible für katholischen Barock, der manch nüchternem Protestanten fremd war – geht auf diese Zeit zurück. Eppich und ihre Mitschwestern waren offen dafür, sich vom geistlichen Leben der Benediktiner-Mönche der benachbarten Abtei Münsterschwarzach inspirieren zu lassen.

Die Aufgabe, die sie in Castell übernahm, war wie für Eppich gemacht. Als Geschäftsführerin für Organisations-, Finanz- und Bauangelegenheiten sowie „Außenministerin“ in der Bundeszentrale der Pfadfinderinnen reiste sie im In- und Ausland und knüpfte ein Netz von Kontakten in Kirche, Politik und Verwaltung, das sie über Jahrzehnte trug. Mal fuhr sie nach Bonn, um über den Bundesjugendplan zu verhandeln, dann nach München, ins Kultusministerium oder ins Landeskirchenamt. Sie pflegte enge Verbindungen nach Schweden und flog nach Japan. Eppichs visionäre Kraft, ihr langer Atem und die unternehmerische Phantasie wirkten ansteckend, ebenso wie ihre Herzlichkeit. Immer wieder hat sie Ministerinnen, Bischöfe, Landtagspräsidentinnen oder Spitzenbeamte im persönlichen Gespräch für Pläne gewonnen, die ihr Gegenüber zu Beginn des Gesprächs noch gar nicht kannte. Eine echte Menschenfischerin.

1957 zogen die Pfadfinderinnen von Castell hinüber auf den zehn Kilometer entfernten Schwanberg, Eppich übernahm die Leitung des dortigen Tagungs- und Bildungshauses. Nachdem sie jedoch 1964 die Langau entdeckt, dann umgebaut und zum internationalen Treffpunkt für Pfadfinderinnen gemacht hatte, fuhr Eppich – eine leidenschaftliche Autofahrerin – oft mit ihrem himmelblauen VW vom Schwanberg im unterfränkischen Landkreis Kitzingen ins bayerische Oberland, ehe sie dort ganz hängenblieb. Sie siedelte um in die Langau, wo sie zur Eröffnung des barrierefreien Hauses im Oktober 1969 den Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), den bayerischen Landesbischof Hermann Dietzfelbinger, begrüßte.

In Anne Hertle und deren Mann Hans (genannt „Swift“) fand Eppich Hauseltern, die den Geist der Offenheit ausstrahlten, der ihr wichtig war und der die Langau bis heute ausmacht. 1970 wurden die ersten Pädagogen eingestellt. Familien mit und ohne behinderte Angehörige kamen, ebenso wie Schulklassen oder Kirchenchöre. Sehr schnell gesellten sich zu den hauptamtlichen auch viele ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die den „Langauer Stil“ – Zupacken, Herzlichkeit, Hilfsbereitschaft, Gastfreundschaft – mit prägten.

Eppich wusste immer, dass Geld alleine nicht genügt, um Großes zu tun. Aber sie kannte auch das Gefühl, tolle Pläne, ja Visionen, zu haben, aber nicht die nötigen Mittel dazu. Deshalb stellte sie, gesegnet mit einem beispiellosen Talent für das Beschaffen von Zuschüssen, die Langau finanziell auf eigene Füße, trennte sie heraus aus dem vergleichsweise kleinen Bund Christlicher Pfadfinderinnen und gründete den Verein „Bildungs- und Erholungsstätte Langau“, der die Langau bis heute trägt und in Kenntnis seiner Wurzeln das Erbe der christlichen Pfadfinderinnen bewahrt.

Hedwig Döbereiner war und blieb stets offen für Neues, für Aufbruch. 1981 verließ sie, zur Überraschung und auch Enttäuschung mancher Mitschwestern, nach langem inneren Ringen die Communität Casteller Ring. „Ich habe eine neue Seite im Buch meines Lebens aufgeschlagen“, sagte sie, wenn sie jemand nach dem „Warum?“ fragte. Ihr neues Leben? Das war jetzt die Langau.

Dort schuf sie Modellprojekte, die über Bayern hinaus wegweisend waren. Etwa das „Langauer Modell“, bei dem Eltern von Kindern mit Behinderung sich begegnen und austauschen konnten, begleitet und gestützt von Pädagogen. Auch die ersten Angebote für Geschwisterkinder, die sich über die Behinderung ihres Bruders oder ihrer Schwester mit anderen Kindern und Jugendlichen in der gleichen Lebenssituation austauschen konnten, entstanden in der Langau.

Eppich räumte Hindernisse beiseite und ging Wagnisse ein. Mit den Jahren formte sie die Langau so zu einer bundesweit einmaligen Einrichtung der Bildung und Begegnung. Wo sonst gesellen sich Menschen mit und ohne Behinderung, Bundeswehr-Soldaten, die in Afghanistan gekämpft haben, Alleinerziehende, Kirchengemeinden, Familien mit dementen Angehörigen, Schülerinnen und Schüler sowie Menschen auf der Suche nach Gott oder Spiritualität zusammen? Wo sonst kommen so unterschiedliche Menschen miteinander ins Gespräch?

Eppich mischte sich gerne unter diese Menschen. Sie führte die Langau nicht von ihrem Büro aus oder von oben herab, sondern als Zuhörerin und Gastgeberin, mit Charisma und Humor. 1993 zog sie sich als Geschäftsführerin zurück, wohnte aber weiterhin in der Langau. Von ihrem Balkon im ersten Stock aus genoss sie den Blick auf die Alpen. Kein Wunder, dass sie sich nach ihrem Umzug ins Münchner Wohnstift Augustinum 2009 wieder eine kleine Wohnung suchte, von der aus sie die Zugspitze in den Blick nehmen konnte. Und selbstverständlich auch, dass sie weiterhin Mitglied im Trägerverein der Langau blieb. 

Wer auf so vielen kirchlichen Hochzeiten tanzt wie Eppich es zeitlebens getan hat, hätte leicht den Überblick verlieren können. Doch sie hatte stets einen klaren Fokus: das Wohl der Langau. Ihr nicht allein, aber im Besonderen galt Eppichs Engagement – als Mitglied der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, im Diakonischen Rat der bayerischen Kirche wie der EKD, als Vorstandsmitglied der Arbeitsgemeinschaf für Evangelische Erwachsenenbildung sowie in vielen anderen Gremien. Bei ihrer Verabschiedung als Leiterin der Langau bezeichnete sie der damalige bayerische Diakoniepräsident Heimo Liebl als die „Mutter der Diakonie“ im Freistaat. Das Land Bayern würdigte Hedwig Döbereiners Wirken mit dem Verdienstorden und der Staatsmedaille für soziale Verdienste; vom Bund wurde sie mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt, von der Kirche unter anderem mit dem Kronenkreuz der Diakonie.

Hedwig Döbereiner war stets auf der Seite der Schwachen. Sie wusste selbst, wie es sich anfühlt, hilflos zu sein. 1988 war sie auf dem Weg von München in die Langau, ein entgegenkommendes Auto fuhr in ihres hinein. Schwerverletzt, beide Beine zertrümmert, kam sie in die Unfallklinik Murnau. Nach der Operation sagte der Chirurg zu ihr: „Sie werden nie mehr gehen können.“ Sechs Monate musste sie bleiben, ehe sie das Krankenhaus, auf Krücken gestützt, verließ. Eine Stehauf-Frau.

Auch danach setzte sie sich wieder ans Steuer ihres geliebten Mercedes. Sie verreiste für ihr Leben gern – mit dem Auto, dem Bus, dem Flugzeug, fast immer zusammen mit ihrer Lebensbegleiterin Reingard Wägner. „Ohne Reingard würde ich das alles nicht schaffen“, hat Eppich immer wieder gesagt. „Wir sind zwar kein Ehepaar. Aber manches ist bei uns wie bei einem Ehepaar. Wir brauchen uns, und wir streiten uns.“ Reingard und Eppich kannten sich seit mehr als 60 Jahren. Eppich hatte Reingard an Pfingsten 1959 als Pfadfinderin kennengelernt.

Auf Eppichs Schreibtisch stand lange ein Spruch von Hilde Domin:

„Nicht müde werden, sondern dem Wunder leise wie einem Vogel die Hand hinhalten.“ 2019 sah es so aus, als werde Hedwig Döbereiner müde und werde nach einer großen Operation nicht mehr lange leben. Eine befreundete Ärztin sagte: „Aber vielleicht geschieht ja ein Wunder.“ Eppich hielt dem Vogel die Hand hin – und kehrte wieder zurück ins Augustinum. Sie wollte die Zugspitze noch einmal sehen.

Seit dieser Operation ist es Eppich oft nicht gut gegangen. Sie lag, saß im Rollstuhl, hatte Schmerzen. Doch zu klagen, war ihr fremd. „Das Glas ist noch immer halb voll“, sagte sie dann und lachte bis zum Schluss auch über sich selbst. Am meisten sorgte sie sich darum, wie lange es Reingard noch schaffen könne, sie zu versorgen. Ihre Lebensbegleiterin, der ihr wichtigste Mensch, war Tag und Nacht bei ihr. „Ohne Reingard“, sagte Eppich, „würde ich verdorren wie ein trockenes Veilchen“.

Am kommenden Wochenende, am 12. März, wollte Eppich zum ersten Mal seit Langem wieder in die Langau kommen, zur Verabschiedung von Peter Barbian. Nun hat sie sich vorher selbst verabschiedet – von der Langau und allen, die ihr so viel bedeutet haben. Am 4. März ist sie, im Alter von 97 Jahren, in München gestorben. Als sie ruhig einschlief, war Reingard Wägner an ihrer Seite.